Wie gestaltet man seinen Arbeitsalltag als vollständig blinder Mitarbeiter in einem internationalen Industrieunternehmen?
Zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung möchten wir eine Geschichte teilen, die uns bei TLT-Turbo besonders am Herzen liegt – weil sie zeigt, dass gelebte Inklusion weit über technische Hilfsmittel hinausgeht.
Christian, seit mehr als 25 Jahren Teil der TLT-Turbo Familie und heute im HR-Team tätig, gibt uns einen persönlichen Einblick in seinen Alltag, seine Herausforderungen – und vor allem in die besondere Stärke eines Teams, das Inklusion wirklich lebt.
Sein Bericht ist ein Ausdruck von Mut, Zusammenarbeit und echter Barrierefreiheit. Und er erinnert uns daran, dass jedes Unternehmen – auch wir – täglich einen Beitrag dazu leisten kann, Arbeitsumgebungen fairer, zugänglicher und bewusster zu gestalten.
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Christian, magst du dich kurz vorstellen - seit wann bist du bei TLT-Turbo und in welcher Abteilung arbeitest du?
Ich bin 49 Jahre alt und lebe mit meiner Partnerin und unseren zwei kleinen Kindern (4,5 Jahre und 12 Wochen) in Dortmund. Wir wohnen in unserem eigenen Haus, das wir gekauft und komplett kernsaniert haben.
Ich arbeite seit 1999 bei TLT-Turbo. Nach zwei Jahren in der Finanzbuchhaltung bin ich 2001 in die Personalabteilung (HR) gewechselt und arbeite seit 2020 komplett im Homeoffice.
Ich bin seit Geburt an vollblind, hatte aber etwa 30 Jahre lang einen kleinen Sehrest. Meine Partnerin ist ebenfalls blind. Unsere große Tochter sieht normal, und bei unserer kleinen stehen die Chancen sehr gut, dass sie ebenfalls sehen kann - sie ist aber noch zu jung, um das sicher sagen zu können.
Wie bist du ursprünglich zu TLT-Turbo gekommen?
Ich bin durch meine Mutter und eine damalige Kollegin zu TLT-Turbo gekommen. Meine Mutter hat selbst früher bei TLT-Turbo gearbeitet - ebenfalls in der Personalabteilung - und war bis zu ihrer Rente hier tätig. Sie hat mich damals ins Unternehmen gebracht.
Du bist sehbehindert - magst du erzählen, wie sich das in deinem Alltag bemerkbar macht?
Im Privatleben sehe ich bestimmte Dinge nicht - gerade im Alltag mit meinen Töchtern. Deshalb nutze ich eine Elternassistenz, zum Beispiel um bei den Kindern Ausschläge, kleine Verletzungen oder Veränderungen an der Haut zu erkennen - sie ist sozusagen unser „Auge“. Auch unterwegs hilft sie uns, etwa beim Arztbesuch mit den Kindern.
Zu Hause nutzen wir technische Geräte, die akustisch arbeiten oder mit fühlbaren Markierungen versehen sind, damit wir sie bedienen können.
Ich bin zudem mit einem Blindenstock unterwegs, an Ampeln und im öffentlichen Raum auf Barrierefreiheit angewiesen. Meine Frau ist ebenfalls sehbehindert - daher brauchen wir diese Unterstützung auch gemeinsam. Die Assistenz hilft uns zum Beispiel auch dabei zu erkennen, was unsere Kinder in den Mund nehmen oder ob etwas heruntergefallen ist.
Welche Hilfsmittel oder Tools nutzt du, um deinen Arbeitsalltag gut zu bewältigen?
Ich arbeite mit entsprechender Hard- und Software: Allen voran mit dem JAWS-Screenreader, einer normalen Tastatur und einer Braillezeile. Diese erzeugt durch elektronische Impulse fühlbare Punkte, die ich in Blindenschrift lesen kann. Damit kann ich meinen gesamten Arbeitsalltag abdecken.
Wie sieht ein typischer Arbeitstag bei dir aus? Welche Aufgaben machen dir besonders Spaß?
Ich starte gegen 9:30 Uhr, sortiere E-Mails, prüfe Termine und nehme am kurzen Daily-Call mit der Abteilung teil (ca. 15 Minuten). Danach arbeite ich die Aufgaben ab. Besonders gerne beschäftige ich mich mit Tabellenkalkulationen - etwa zur Fluktuation oder zu Personalzahlen - und mit Themen rund um Zeiterfassung.
Gibt es Tätigkeiten, die durch deine Sehbehinderung eine besondere Herausforderung darstellen - und wie gehst du damit um?
Ja, definitiv. Besonders herausfordernd sind Aufgaben mit viel visueller Struktur - etwa, ob eine Datei optisch korrekt eingerückt ist oder Zeilen am Rand abgeschnitten wurden. Wenn ich zum Beispiel ein Word-Dokument bearbeite, sehe ich nicht, ob das Layout korrekt ist.
Auch bei Präsentationen oder Schulungen ist es schwer mitzukommen, da ich weder Unterlagen noch Grafiken visuell erfassen kann. Viele PDFs lassen sich trotz OCR nicht gut lesen, und PowerPoint-Grafiken sind meist unzugänglich.
Zum Vergleich: Während ein sehender Kollege auf einen Blick mehrere Zeilen oder gar einen halben Bildschirm erfasst, kann ich nur Zeile für Zeile lesen - das ist deutlich zeitaufwendiger.
Wie erlebst du die Zusammenarbeit im Team - gibt es Dinge, die du besonders schätzt?
Auf jeden Fall! Ich fühle mich im Team sehr wohl - wir haben eine tolle Zusammenarbeit, alle sind sehr positiv eingestellt und unterstützen sich gegenseitig. Es gibt nichts zu bemängeln.
Gibt es Momente, in denen du besonders stolz auf dein Team oder deine Arbeit warst?
Ich bin generell stolz auf unser Team - besonders darauf, wie wir uns gegenseitig unterstützen und zusammenhalten.
Wie unterstützt dich TLT-Turbo konkret im Arbeitsalltag - z. B. durch technische Hilfsmittel, flexible Arbeitsgestaltung oder offene Kommunikation?
Die flexible Arbeitsgestaltung klappt sehr gut - ich kann meine Arbeitszeit individuell anpassen. Die technischen Hilfsmittel beschaffe ich selbst, da ich genau weiß, was ich brauche und ich ja auch nicht vor Ort in Zweibrücken, sondern in Dortmund arbeite. Die Kommunikation mit meiner Vorgesetzten und dem Team ist stets offen und konstruktiv.
Welche weiteren Verbesserungen könnten Barrierefreiheit und Inklusion im Unternehmen noch fördern?
Barrieren gibt es für einen Menschen mit Sehbehinderung leider immer - Stichwort: rasend schnelle technische Entwicklung.
Aktuell arbeite ich aufgrund meiner familiären Situation mit reduziertem Stundenumfang. Perspektivisch würde ich mich freuen, wieder mehr Aufgaben übernehmen zu können und mich stärker einzubringen - gerne auch in anderen Bereichen neben HR.
Generell sehe ich in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung viel Potenzial: Inklusion kann weiter gestärkt werden, indem man gemeinsam offen prüft, wo zusätzliche Unterstützung sinnvoll sein könnte.
Was würdest du anderen Menschen mit einer Behinderung raten, die überlegen, sich bei TLT-Turbo oder in der Industrie zu bewerben?
Inklusion ist ein gesellschaftlich viel diskutiertes Thema. In der Theorie klingt das oft wunderbar einfach, aber die Praxis sieht leider meist ganz anders aus. Blinde Menschen gelten oft als „langsamer“ und werden dadurch bei Bewerbungen häufig übergangen.
Man muss als Blinder besser sein als Sehende, um überhaupt eine Chance zu bekommen - das sagen auch viele andere Betroffene. Ich würde empfehlen, im Vorstellungsgespräch direkt anzusprechen, dass ein Unternehmen bereit sein muss, sich die nötige zusätzliche Zeit mit einem behinderten Menschen zu nehmen. Sonst ist das Interview für beide Seiten an dieser Stelle einfach nur Zeitverschwendung und frustrierend.
In einigen Branchen gibt es noch Nachholbedarf beim Thema Inklusion. Umso wertvoller ist es, wenn Unternehmen aktiv zeigen, dass Vielfalt willkommen ist - so wie ich es bei TLT-Turbo erlebe.
Was bedeutet für dich der „International Day of Persons with Disabilities“ persönlich?
Ehrlich gesagt kannte ich den Tag vorher nicht. Aber ich finde ihn sehr wichtig - denn das Bewusstsein für Menschen mit Behinderung fehlt in vielen Bereichen. Selbst bei mir war das nicht präsent.
Es ist gut, dass es diesen Tag gibt, aber er müsste viel sichtbarer sein: in Zeitungen, im Radio oder mit einem kurzen Beitrag in der Tagesschau. Ich werde in diesem Jahr ganz bewusst darauf achten, wie Medien und Gesellschaft mit diesem Tag umgehen.
Wie können Unternehmen und Kolleg:innen allgemein mehr Bewusstsein für Menschen mit Behinderung schaffen?
Dieses Interview ist ein guter Anfang. Ich finde es toll, gefragt worden zu sein und etwas aus meinem beruflichen wie privaten Alltag zu erzählen.
Ich verlange nicht viel von meinen Kolleg:innen. Ich selbst könnte zum Beispiel auch nicht nachempfinden, wie es ist, gehörlos zu sein. Aber gerade im stressigen Arbeitsalltag ist es wichtig, Menschen mit Behinderung mehr Raum und vor allem mehr Zeit zu geben. Das geht leider oft unter.
Gibt es eine Botschaft, die du an alle Kolleg:innen oder auch an andere Betroffene richten möchtest?
Ich möchte allen mitgeben: Gestaltet euer Leben, wie ihr es möchtet – mit allen Herausforderungen. Ich gehe mit meinem Kind genauso über die Straße, bringe es zum Schwimmen oder zum Turnen.
Natürlich stößt man an Grenzen, zum Beispiel, wenn wir im Regen unser Kind vom Kindergarten abholen müssen und wir niemanden finden, der uns hinfahren könnte. Nur wenige nehmen sich die Zeit, zu helfen.
Wichtig ist: nicht entmutigen lassen. Menschen mit Behinderung wollen nicht betteln oder bemitleidet werden, aber manchmal sind sie eben auf Hilfe angewiesen.
Und für alle, die helfen wollen: Wenn ihr eine blinde Person seht, die nicht weiterkommt, zum Beispiel am Bahnhof, bitte immer zuerst fragen und niemals ungefragt anfassen. Wenn Hilfe gewünscht ist, ist das großartig – wenn nicht, dann einfach akzeptieren. Helfen zu wollen ist immer richtig – egal, ob jemand blind ist oder im Rollstuhl sitzt. Habt den Mut.
Wir danken Christian herzlich für seine Offenheit und dafür, dass er seinen persönlichen Weg mit uns teilt. Seine Geschichte zeigt, wie wertvoll gelebte Inklusion für unser Unternehmen ist und wie sehr wir von seiner Expertise, seiner Perspektive und seiner positiven Haltung profitieren.
Arbeitgeber, die Menschen mit Behinderungen beschäftigen oder neue Arbeitsplätze schaffen möchten, können dafür übrigens Unterstützung erhalten: Die Integrations- und Inklusionsämter bieten verschiedene finanzielle Hilfen an, zum Beispiel für die behinderungsgerechte Ausstattung von Arbeitsplätzen, für technische Hilfsmittel oder für Assistenzleistungen im Arbeitsalltag. Auch außergewöhnliche Belastungen oder zusätzlicher Unterstützungsbedarf können gefördert werden.
Weitere Informationen finden Sie hier: Finanzielle Leistungen an Arbeitgeber | BIH